Selektiert die Wahrnehmung – Ein Experiment

Fernweh packt mich. Wie so oft in meinem Leben suche ich meine Sachen zusammen – Wanderschuhe, Wechselklamotten, Sonnencreme – und stopfe alles in meinen Rucksack. Ausgefeilte Reisepläne mache ich mir selten. Natürlich weiß ich, wo es hingeht, wo die Stadt liegt. In groben Zügen kann ich auch sagen, was mich erwarten wird. Doch zu viel möchte ich nicht wissen, möchte mir keine Bilder ausmalen oder festlegen, wann ich mir den Tempel von Mol ansehen möchte. Vielleicht regnet es an dem Tag, und ich bevorzuge es, in einer Schenke rumzusitzen. Ich will mich treiben lassen und mich den Gegebenheiten anpassen.
Übrigens, mein Reiseziel ist Mol Jirr. Das rr muss gerollt werden, fast geschnurrt, da es sonst zu einer anstößigen Bedeutungsverzerrung kommen würde.




Suna (Erstellt mit: CC3) 

Nach unserer Zeitrechnung ist es der 6. Mai, ein kühler Morgen, der langsam von erhitzten Luftmassen weggeföhnt wird, bis es mumifizierend heiß wird. Die letzten Tage in der Hitze haben mich fühlen lassen, wie meine Kapillare verdorrten, meine Augäpfel schrumpften und meine Haut Trockenrisse bekam. Eine Röntgenaufnahme meiner Lungenflügel würde vermutlich zwei verrunzelte Lappen zeigen, die bei jedem Atemzug in meinem Brustkorb hin- und herschlackern.

Eine Karawane bringt mich bis vor die Stadttore. Am Mittag werden wir dort ankommen. Zeit genug, die Vorfreude zu genießen und mich während des monotonen Wüstenschiffgeschaukels auf die kommenden Tage einzustimmen.
Umrisse von Gebäuden heben sich vor dem flimmernden Wüstenhimmel ab. Sehen aus, wie umgedrehte Tonschüsseln. Irden, nicht sehr hoch, dafür breit. Die Stadt offenbart sich mir langsam, gibt im gemächlichen Tempo immer mehr Einzelheiten preis. Minarettartige Säulen mit kugeligen Köpfen ragen dünn zwischen den Schüsseln empor. Ich sehe die buschigen Spitzen von Palmen über den Gebäuden hervorlugen und höre hektisches Vogelgezwitscher. Das Einzige, was ich nicht sehe, sind Fenster in den Gebäuden.
Der morgendliche Fallwind legt sich. Der antreibende Temperaturunterschied zu heute Morgen ist ausgeglichen. Es ist heiß, ich bin eine Mumie. Einer der Händler reicht mir Wasser. Dankbar gieße ich es mir in den ausgetrockneten Rachen und warte darauf, dass dabei Wasserdampf aufsteigt.

Den wahren Geschmack von Wasser erkennt man in der Wüste. Noch nie fühlte ich die Wahrheit dieses Sprichwortes meiner Vorfahren so deutlich wie jetzt. Warmes Wasser rinnt meine Kehle runter, belebt mich innerlich.
Die Karawane kommt allmählich zum Stehen. Das Schaukeln hat ein Ende. Ich erinnere mich an eine Textpassage aus Vyron.

„Sie [Jirr] gingen in die Stadt, unter das Volk der Jammé, die bis in die weiten Gefilde der Sunasteppe lebten und die fruchtbaren Felder der Jammé plünderten und sie an Stärke übertrafen. Die göttliche Mol ließ sie über die Jammé siegen und ihren Wohnsitz in dem Graßland nehmen.
Doch als der erderschütternde Gott der Jammé dies gehört, stieg er empor und verwandelte das grüne Land in Sand und Stein – Suna wurde wüst.“ (Vyron IV, 625)

Sand knirscht zwischen meinen Zähnen, während ich mich beim Karawanenführer bedanke.
„Frach Krahal!“, schnurrt er zurück und entblößt dabei seine spitzen Reißzähne.
Ich baue mich vor der Stadt auf und suche Euren Protagonisten. Dort steht er. Ich begrüße ihn mit Handschlag und gebe eine kurze Einweisung:
„Gehe so, wie du bist, in die Stadt. Du musst gerade auf Klo? Hast Hunger? Durst? Bist verwundet? Was sind deine ersten Eindrücke? Was wirst du als Erstes tun?
Ich werde zwei Tage hierbleiben, um mich Mol Jirr hinzugeben. Am Ende des zweiten Tages sitze ich in der Schenke „Zum betrunkenen Kater“ und erwarte deine Gesellschaft. Bei einem Bier höre ich dir zu. Was hast du in der ersten Stunde, die du in Mol Jirr warst, wahrgenommen und erlebt? Wie hat sich deine Wahrnehmung in den weiteren zwei Tagen erweitert? Welche Aspekte der Stadt hast du aufgenommen?“ 
Ich bin gespannt, was Euer Protagonist zu erzählen hat, und kann es kaum erwarten, seine Geschichte zu hören. Er wird, genau wie Ihr, eine selektive Wahrnehmung von seiner Umgebung haben. Eine fremde Stadt wird auf einen PTBS gebeutelten Kriegsveteranen anders wirken als auf eine Harfe spielende Hippifee.
Wähle bewusst, welchen Weg Euer Protagonist nimmt und wie er mit der Umgebung interagiert. Das ist eine Methode, „show don’t tell“ zu benutzen, damit die Figur zu charakterisieren und gleichzeitig einen atmosphärischen Fingerabdruck der fremden Stadt zu schaffen.


Habt ihr Lust, eure Figur durch die Wüstenstadt zu schicken? Dann erzählt uns doch, was er erlebt hat. Wir warten bei den Schreibimpulsen auf seine Erfahrung!