Die guten und die schlechten Gene

Die Genetik funktioniert in Romanen anders als im realen Leben.
Im Leben ist es Zufall, welche Gene man vererbt bekommt, in Romanen sind es immer die schlechten, die der Hauptfigur zufallen. Der Körperbau ist zu kräftig, das Gesicht zu gewöhnlich, die Augen zu groß, der Teint zu dunkel oder zu blass, während der Rest der Familie natürlich überirdisch schön ist.


Die Mutter ist eine hochgewachsene, schlanke, elegante, ruhige Frau, die ihre Stärke nur im Ernstfall zeigt. Sie hat hohe Wangenknochen und zarte Gesichtszüge, der Teint ist porzellan-, elfenbeinfarben oder erinnert an Alabaster. Oft ist die Mutter auch schon verstorben oder stirbt im Laufe der Geschichte am oben genannten Ernstfall. Aber vor allem ist Mama in den Augen der Protagonistin immer die Schönste und Klügste.

Ich nehme ein beliebiges Buch aus meinem virtuellen Bücherregal und finde sofort das erste Beispiel: Tris‘ Mutter (Veronica Roth. Die Bestimmung). „[…] würde meine Mutter als hübsch bezeichnen. Ihre Wangenknochen sind hoch und ihre Wimpern lang, und wenn sie nachts ihr Haar offen trägt, fällt es lockig über die Schultern.“ Wahrscheinlich ist es die gleiche Frau wie bei Romina Russels Zodiac „Mom fielen ihre langen, hellen Locken über den Rücken, und die Sonne schimmerte auf ihrer elfenbeinfarbenen Haut und den großen, runden Augen.“ Auch im dritten Buch, das ich wahllos aus meinem Schrank ziehe, finden wir das gleiche Mamaprofil: „[…] eine klassische Tearschönheit, hochgewachsen, blond und schlank“ (Erika Johansen. Die Königin der Schatten). Die genannten drei Titel sind Bestseller. Die neusten Hypes (gewesen).
Ich will nicht meckern, denn es ist recht praktisch, wenn die Charaktere eh alle gleich sind. Man braucht nur einmal das Hirn dazu zwingen, ein Bild von einer Mutter zu erzeugen. Danach kann man die Fantasie wieder wegsperren. Falls die Mutter eine Schlüsselrolle spielt, kann man sich gewiss sein, dass sie ihre zarten Fassade fallen lassen und die toughe Powerfrau zeigen wird. Das geschieht in der Szene, in der sie ihrer Tochter, der Protagonistin, die wahren Kräfte zeigt … und draufgeht.
Ihr schüttelt den Kopf, weil ihr meint, dass Mütter nicht immer hochgewachsen und elegant sind? Stimmt. Es gibt noch die Mütter-Mütter. Das sind diese liebevollen, warmen, meist etwas beleibteren Frauen. Diese existieren aber nur in Romanen, in denen es nicht das Kindermädchen gibt, das diese Rolle übernimmt.

Ältere Schwestern sind wie die Mütter, jüngere Schwestern sind zerbrechlich und oft auch kränklich, damit sie beschützt werden können. Katniss muss ihre kleine Schwester Prim beschützen (Suzanne Collins. Die Tribute von Panem), und im gleichen Genre und in der gleichen Konstellation Kay ihre kleine Schwester Marcie (Katharina Groth. Centro). Ich frage mich, was passiert, wenn die Protagonistin irgendwann Mutter wird. Setzt sie sich Schönheitsoperationen aus oder überlässt sie diese Rolle ihrer großen eleganten Schwester?
Nun zu den Männern. Brüder und Väter sind auch immer gutaussehend. Aber das sagt die Progagonistin meist nicht offen, da es ansonsten Inszest-Vorwürfe geben kann. Nichtsdestotrotz findet zum Beispiel Tris ihren eigenen Bruder ziemlich heiß. Ein Gedanke, den ich nicht verstehen kann.
Ich habe mal gehört, dass man sich nicht in Menschen verlieben kann, mit denen man seit dem Kleinkindalter aufgewachsen ist, da es ein natürlicher Schutz ist, um Inzest zu vermeiden. Mir käme es nie in den Sinn, den eigenen Bruder oder die Schwester sexy zu finden. Ich kann zwar verstehen, dass andere Menschen über die beiden so empfinden, aber diese Empfindung kann ruhig bei den anderen bleiben.
Deshalb finde ich es so unrealistisch und seltsam, wenn in Romanen die Geschwister wie aus den Augen eines Liebhabers beschrieben werden. In Das Orchideenhaus von Lucinda Riley heißt es: „Alicia [Protagonistin] war immer beeindruckt von ihrer Schönheit [Julia]. Julias fein geschnittenes Gesicht wurde eingerahmt von einer dichten Mähne mahagonifarbenen Haares, und ihre mandelförmigen, bernsteinfarbenen Augen und hohen Wangenknochen traten jetzt, da sie ein paar Kilo abgenommen hatte, noch deutlicher hervor“. Wieder eine dünne, zerbrechliche Frau mit hohen Wangenknochen. Die stellen selbst die edelsteinfarbigen Augen in den Schatten …

Die Protagonistin mittelmäßig aussehen zu lassen, ist ein toller1 Kniff der Autorinnen. Erstens können sich Leserinnen anscheinend besser mit Frauen Macken und Makeln identifizieren, zweitens kann man damit verschleiern, dass die Protagonistin eigentlich eine Mary Sue ist und drittens kann eine „Charakterentwicklung“ stattfinden (von mittelmäßig zu hübsch). Besonders in Liebes- oder Entwicklungsromanen wird sie am Ende erkennen, dass Sommersprossen, kurze Haare, ein sportlicher und braungebrannter Körper, eine zerbrechliche oder eine sehr weibliche Figur ebenfalls attraktiv sein kann.
Die Charakterentwicklung ist wichtig. Je nach Genre ist sie der Haupthandlung gleichgestellt oder übergeordnet. Sie besteht aber nicht daraus, die Brille abzusetzen, den Dutt zu lösen und sich vom hässlichen Entlein in einen Schwan zu verwandeln. Die Figuren müssen wie der Plot von der Handlung logisch strukturiert sein. Wie wichtig das Plotting ist, erzähle ich das nächste Mal.


1 Das ist Sarkasmus.